DORFBEWOHNER NEHMEN ES MIT SUPERMÄRKTEN AUF

 

Einkaufen im Supermarkt

 

 

dpa (Deutsche Presse Agentur)

 

 

Einkaufen im Supermarkt

 

Tante-Emma-Läden sterben aus. Der Lebensmittelhandel zieht sich aus der Provinz zurück, viele Orte sind ohne Geschäft. Dorfbewohner greifen nun zur Selbsthilfe und gründen eigene Läden. Kalkulieren müssen sie dennoch wie die Großen, aber es entsteht mehr als ein eigener Supermarkt.

 

50 Bratwürse, zwei Sack Grillkohle, eine Kiste Cola. Für die Jahreszeit ist es ein recht untypischer Einkaufszettel, mit dem Bärbel Büchtmann an diesem Samstagmorgen den kleinen Dorfladen im niedersächsischen Otersen betritt. „Heute ist Wintergrillen mit den Nachbarn“, erklärt die 47-Jährige beinahe entschuldigend. Die beiden Verkäuferinnen wissen das längst und ziehen die Kohlesäcke hervor. Wer rechtzeitig Bescheid sagt, kriegt hier auch im Januar das komplette Grillsortiment.

 

Bärbel Büchtmann sowieso. Denn sie ist im Laden nicht nur Kundin, sie ist auch Eigentümerin. Genauso wie 79 weitere Dorfbewohner. Denn der „Dörpsladen“ ist kein normales Geschäft, sondern eine Art Selbsthilfeeinrichtung verzweifelter Käufer. Nachdem in Otersen ein Geschäft nach dem anderen dichtgemacht hatte, beschlossen die Einwohner, ihren eigenen Laden zu gründen. Ein Pionierprojekt, das inzwischen in ganz Deutschland Nachahmer findet.

Der Konzentrationsprozess im Einzelhandel und der Trend zu immer größeren Verkaufsflächen haben in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Massensterben der kleinen Läden geführt. Im Jahr 1970 gab es in Deutschland noch 125.000 kleine Lebensmittelhändler. Zehn Jahre später waren es nicht mal mehr 70.000. Und bis zum Jahr 2007 sank die Zahl der „Tante-Emma-Läden“ auf unter 25.000. Nirgends ist das so deutlich zu spüren wie auf dem platten Land.

 

Otersen ist ein 520-Seelen-Dorf am Rande der Lüneburger Heide, dessen Infrastruktur schnell beschrieben ist. Die Dorfstraße führt vorbei an pittoresken Hofgebäuden, doch hinter den Fachwerkfassaden leben fast keine Bauern mehr. Einen Gasthof gibt es noch, er bietet aber keine Fremdenzimmer mehr an. Dann ist da die alte Dorfschmiede, in der auch mal nach Autos und Landmaschinen der Dorfbewohner geschaut wird.

 

Und das war’s dann auch schon. Bis vor einiger Zeit war Otersen noch eines der verlassenen deutschen Dörfer in Zeiten der Landflucht, in denen nur noch die Erinnerung regiert. Früher hatten sie hier vier Geschäfte und eine Sparkasse, da gaben 26 landwirtschaftliche Vollerwerbsbetriebe den Menschen Lohn und Brot. Sogar eine eigene Schule hatte das Dorf.

 

Doch nur von seiner Vergangenheit kann ein Ort nicht leben. Mitte der 90er-Jahre lag die Einwohnerzahl nur noch bei 400, Otersen war „auf dem Weg zum sterbenden Dorf“, erinnert sich Günter Lühning, der Vorsitzende des Heimatvereins. „Dann haben wir aufgehört, unser Schicksal zu beklagen, und das Heft selbst in die Hand genommen.“

 

Das Ergebnis ist wochentags ab 6.30 Uhr geöffnet und duftet dann nach frischen Brötchen: 150 Quadratmeter Verkaufsfläche, Obst- und Gemüseabteilung, Kühlregal mit Molkereiprodukten, eine Fleisch- und eine Backwarentheke, ein kleines Non-Food-Sortiment und in der Mitte die nicht verderbliche Ware. Außerdem gibt es einen Getränkeshop mit Leergutannahme und eine Registrierkasse mit Laufband. Der Dorfladen sieht auf den ersten Blick nicht anders aus als jeder x-beliebige Supermarkt. Sogar ein kleines Einkaufswagenspalier steht neben dem Eingang.

 

Der große Unterschied ist, dass hier zu einem Großteil „Aktionäre“ einkaufen. Nachdem im Jahr 2000 die letzte Einzelhändlerin von Otersen im Alter von 68 Jahren ihren Laden aufgegeben hatte, taten sich die Einwohner zusammen und übernahmen das Geschäft. Ihre Anteile zum Nennwert von 250 Euro sind als Kapitalanlage zwar eher uninteressant. „Dividenden werden nicht ausgeschüttet“, sagt Dorfladengründer und Beirat Lühning, im Hauptberuf Sparkassenbetriebswirt. „Aber es gibt eine immaterielle Rendite: Lebensqualität.“

 

Denn in ihrem kleinen Tante-Emma-Laden erledigen die Einwohner nicht nur viele Einkäufe, er übernimmt mittlerweile die Funktionen eines ganzen Ortskerns. Seit zur Jahreswende die Sparkasse geschlossen hat, werfen die Einwohner hier ihre Überweisungsträger ein und können auch kleinere Geldbeträge abheben. Der Dorfladen ist zugleich Zeitungskiosk, Blumenladen, Paketshop und die Annahmestelle eines Apothekendienstes, der Medikamente noch am selben Tag an die Haustür liefert. Und er ist das kommunikative Zentrum von Otersen, wo jeder beim Einkauf noch einen kurzen Schnack hält. Der nächste Discounter in der 15 Kilometer entfernten Kreisstadt kann diese Funktionen nicht bieten.

 

Gerade für alte Dorfbewohner ist schwer zu sagen, was wichtiger ist: dass sie eine gut erreichbare Einkaufsmöglichkeit haben oder jemanden zum Reden. Mit dem demografischen Wandel wird der Bedarf für beides in den kommenden Jahrzehnten steigen. „Aufgrund der alternden Bevölkerung geht in den Städten der Trend allmählich wieder zu kleineren, wohnortnahen Verkaufsangeboten“, sagt Nicolaus Sondermann vom Institut für Handelsforschung der Universität Köln. „Doch an den Dörfern haben die Einzelhandelskonzerne kein Interesse. Für gewinnorientierte Angebote sind die Umsätze dort einfach zu dünn.“ Wenn sich der letzte alteingesessene Krämer zur Ruhe setzt, gehen im örtlichen Einzelhandel die Lichter oft nie wieder an. Das beschleunigt die Abwärtsspirale von Attraktivitätsverlust und Abwanderung weiter.

 

Der Erfolg der ersten Dorfläden hat sich deshalb schnell herumgesprochen. Bundesweit gibt es mittlerweile an die hundert solcher Projekte in Bürgerhand. In dieser Woche zum Beispiel präsentierte sich auf der Grünen Woche in Berlin die „DORV-Zentrum“-Kooperation, die im nordrhein-westfälischen Jülich-Barmen ein Dorfladenkonzept verwirklichte, das schon von rund einem Dutzend anderen Orten übernommen wurde. „Ein Dorf plant sogar einen Neubau inklusive Altenwohnungen“, freut sich Projektleiter Jürgen Spelthann.

 

Aus den entlegensten Winkeln des Landes kommen mittlerweile Anfragen von Dorfgemeinschaften in Otersen an. „Anfangs gab es vielleicht drei im Monat, jetzt sind es drei in der Woche“, sagt Lühning, der mit seinen Mitaktionären sogar ein Dorfladen-Handbuch drucken ließ. Auf 220 Seiten haben sie darin die wichtigsten Erfahrungen und Fehler zusammengetragen. Das Fazit der Geschäftsgründer: „Guter Wille allein reicht nicht. So ein Laden muss sauber durchkalkuliert und laufend kontrolliert werden.“

 

Denn ein Dorfladen ist eine betriebswirtschaftliche Gratwanderung. Die Supermarktketten lassen aus gutem Grund ihre Finger davon: 292.000 Euro setzte der Dörpsladen in Otersen im vergangenen Jahr um. Das ist zwar ein Plus von neun Prozent, doch der Profit ist dürftig. In einem guten Jahr machen die Dorfladeneigner ein Plus von zwei-, dreitausend Euro und können Rücklagen für kleinere Investitionen bilden. Im nächsten Jahr dagegen rutschen sie oft schon wieder in die Verlustzone.

 

Denn auch genossenschaftliche Läden sind nicht vom übrigen Wirtschaftsgeschehen abgekoppelt. Die Preise müssen moderat bleiben, schließlich kaufen hier nicht bloß Aktionäre ein, sondern auch ganz normale Kunden. Einen großen Teil der Arbeit erledigen zwar Ehrenamtliche, die Buchführung macht für eine kleine Aufwandsentschädigung ein Geschäftsführer im Ruhestand, der zugleich Ortsvorsteher ist. Doch die Mitarbeiter – drei Teilzeitkräfte und ein Azubi – müssen normal bezahlt werden.

 

Da reichen schon kleine Einschnitte, und die Existenz gerät in Gefahr. Den Otersenern etwa wurde im vergangenen Jahr von Lotto Niedersachsen die Annahmestelle gestrichen, 2400 Euro Provision fehlen jetzt in der Kasse. „Noch problematischer ist, dass uns dadurch Kundenfrequenz verloren geht“, sagt Lühning. „Wer seinen Schein jetzt woanders ausfüllt, wird dort möglicherweise auch gleich seine Einkäufe erledigen.“

 

Auch wenn das ganze Dorf hinter einer Sache steht, heißt das nicht, dass sie funktionierten muss. Während landauf, landab neue Dorfläden gegründet werden, geben die ersten schon wieder auf. Im niedersächsischen Wulmstorf etwa hatten die Einwohner fast gleichzeitig mit Otersen einen Laden eröffnet und machten ihn nach sechs Jahren wieder dicht. Andere Projekte kämpfen ebenfalls ums Überleben.

 

Eine der größten Herausforderungen für die Dorfläden sind mittlerweile die Energiekosten. Die Verkaufsräume sind häufig improvisiert und schlecht isoliert, Kühllager fehlen meist ganz. In einem kalten Winter ist so schnell der komplette Jahresüberschuss verheizt, und im Sommer ziehen die offenen Kühlmöbel den Genossenschaften das Geld aus der Tasche. „Die Energiekosten übersteigen bei uns bereits die Miete“, klagt Lühning. In diesem Jahr werde man wohl rote Zahlen schreiben.

 

Ende des Monats treffen sich die Dorfladenaktionäre von Otersen zur Gesellschafterversammlung. Ans Aufgeben denkt hier niemand. Im Gegenteil: Sie wollen vergrößern. Zur Debatte steht der Kauf eines Fachwerkhauses aus dem 19. Jahrhundert, das für rund 200.000 Euro zu einem Laden mit angeschlossenem Café ausgebaut werden könnte – mit Mittagstisch, Erzähl- und Spieletreff, Dorfladentaxi und vielem mehr. „Sie werden sehen“, freut sich Lühning, „das wird eine tolle Sache. (Quelle: AOL Nachrichten in Zusammenarbeit mit Welt Online - 24.1.10)

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